Rhein-Meeting 2024: „Warum genügen wir uns selber nicht?“
So lautete der Titel des diesjährigen Rhein-Meetings in Köln. Diese Frage kann als Ausdruck der Resignation wie der Sehnsucht verstanden werden. In jedem Falle ist sie eine Erfahrung, die jeder nachvollziehen kann.Ja, wir genügen uns selber nicht, so kann man nach den vielen Begegnungen während des diesjährigen Rhein-Meetings sagen, das vom 8. bis 10. März in Köln stattfand. Schon die einführenden Worte von Pater Gianluca Carlin an die vielen freiwilligen Mitarbeiter regten zur Aufmerksamkeit für die Frage an. Sie waren erneut eine tragende Säule des Treffens. Vor allem aber waren sie ein Zeichen für das, was das Meeting sein will: Ein lebendiger Austausch von Menschen, die die Fragen, die ihnen das Leben stellt mit anderen teilen möchten.
Zum Auftakt berichteten die Münchner Astronomin Anna Miotello und der Innsbrucker Physiker Laerte Patera von ihrer Leidenschaft für die Grundlagenforschung. Gibt es nur eine Welt oder gibt es viele Welten? Diese Frage hatte schon Albertus Magnus gestellt und sie treibt Miotello und ihr Team noch heute an. Den unmittelbaren Blick in den Kosmos erlaubt ihr das Teleskop der Europäischen Südsternwarte auf dem Cerro Paranal, 2.635 hoch in der chilenischen Atacama-Wüste. Und er ruft für sie dasselbe Empfinden wach, das der italienische Dichter Giacomo Leopardi vor rund 200 Jahren in in seinem Nachtgesang eines wandernden Hirten in Asien beschrieben hat: „Wozu so viele Lichter? Was soll das weite Luftmeer, jener tiefe endlose Äther? Was bedeutet diese gewalt'ge Einsamkeit? Und ich, was bin ich?“ - „Ja“, – so Miotello –„und wer bin ich, angesichts dieser Weite? Und wer ist der Mensch, der solche Teleskope bauen kann und diese Wirklichkeit beobachten und in sich aufnehmen kann?“
Das ist nicht nur mit viel Mühe verbunden, es bedarf auch der Zusammenarbeit mit vielen Kollegen, die sich im European Southern Observatory (ESO) zusammengeschlossen haben. Und es bedarf der Demut, dieses Aufeinander-angewiesen-Seins anzunehmen, der Demut, die Wahrheit mehr zu lieben als seine Hypothesen und seinen eigenen Erfolg.
Patera befasst sich dagegen mit dem Mikrokosmos. Wissenschaft bedeutet für ihn, Entdeckergeist zu haben: sich ganz auf die Wirklichkeit einlassen, mit Geduld, Beharrlichkeit und großer Frustrationstoleranz. Und wenn sich dann das Ergebnis zeigt, in Stille dieses „Stück Wirklichkeit“ fasziniert zu betrachten, um im nächsten Augenblick mit vielen weiteren Fragen konfrontiert zu sein. Die Einsicht, dass Wirklichkeit erkennbar ist, motiviert zum Weiterforschen. Nach Pateras Worten wäre aber die Forschung unmöglich, ohne den Lehrer, der unsere Augen schult und unseren Blick weitet, und der uns hilft, vor den Herausforderungen nicht zu resignieren. Hier zeigt sich die Forschung als Ausdruck jenes inneren Ungenügens, das uns antreibt, nach den Sternen zu greifen oder in das Innere des Atoms zu schauen.
Den Hauptvortrag hielt der Madrider Theologe Javier Prades. Er ging der biblischen Frage nach: „Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?“ Er beschrieb die Größe des Menschen, der nach etwas strebt, was ihn übersteigt, der aber auch in jenen „hemmungslosen Nihilismus“ abrutschen kann, der kennzeichnend ist für weite Teile der Kultur und uns alle beeinflusst, auch die Gläubigen. Was aber kann dem Menschen seinen ursprünglichen Impetus wieder zurückgeben?
Für Prades beginnt die „mutige kulturelle Revolution damit, dass wir den Respekt vor dem Geheimnis des Menschen zurückgewinnen, ohne vorzugeben, dass zu erschöpfen, was an sich unerschöpflich ist“. Also wenn der Mensch als Frage, als unerschöpfliches Subjekt, das keiner Verdinglichung unterliegen kann, wiederentdeckt wird. Dazu müssen wir vom „Ich in Aktion“ ausgehen. Dann stoßen wir auf das geheimnisvolle Abbild, das in uns liegt und ihn übersteigt. Der Mensch entdeckt sich einen Ruf, der seinem Fragen noch vorausgeht.
Gerade weil wir uns die Antwort auf das innere Ungenügen oder besser das innere Streben nicht selbst geben können, brauchen wir eine Weggemeinschaft, Freunde, die ein Echo dieses Anrufes darstellen. Und genau auf diesem Weg will uns auch die Kirche begleiten, so Prades. Anders gesagt: Weil das menschliche Herz kein Automat ist, verlangt es nach Aufmerksamkeit und Erziehung. Für den Madrider Theologen umfasst diese Erziehung drei Aspekte: die Selbstfürsorge, die Gemeinschaft der Zeugen und den allumfassenden Charakter der Beziehung zum Geheimnis als Weg zum neuen Menschen. Diese „Bewegung, über sich hinauszugehen“, zeigt sich für Prades auch in säkularer Form im Transhumanismus.
Für den Karlsruher Physiker und Philosoph, Armin Grunwald liegt darin der Versuch, dem „Skandal der Endlichkeit“ zu entkommen. Angetrieben von dem Wunsch, besser zu werden, entwarf der Mensch das Transzendenzversprechen der Technik bis hin zur utopischen Vision der Transhumanisten, so Grunewald in seinem Vortrag „Mit Digitalisierung zum Übermenschen? Der menschliche Wunsch, besser zu sein“.
Im Transhumanismus sah er den technischen Versuch einer Lebensverlängerung, bei dem das zeitlich-geschichtliche Ziel mit den eschatologischen Erwartungen verwechselt wird. Nach Grunwalds Worten bleibt die Künstliche Intelligenz aber ein rein technischer Abdruck der menschlichen Programmiertätigkeit, gleich wie vermenschlicht sie in ihrer Sprache auch daherkommen mag. Sie ist klar zu unterscheiden vom menschlichen Denken und Lernen und vom menschlichen Sinnverstehen. Soweit sein nüchternes Urteil zur erregten öffentlichen Diskussion über Künstliche Intelligenz.
Entsprechend wandte er sich gegen eine ideologische oder moralisierende Abwehrhaltung moderner Technik gegenüber und plädierte stattdessen für einen verantwortlichen Umgang mit dieser aus dem Verständnis des Menschen als Mitschöpfer am Schöpfungswerk Gottes heraus. Das bedeutet, dass der Mensch in dieser Beziehung immer Subjekt bleiben muss und nie auf ein Objekt verkürzt werden darf.
Die KI ist somit ein Werkzeug, das in vielen Bereichen nützt, den Menschen aber niemals ersetzen kann. Auch wenn durch die KI die Subjekt–Objektbeziehung nicht immer leicht zu unterscheiden ist, muss der Mensch laut Grunwald immer derjenige bleiben, der in die Verantwortung gerufen ist. Wenn es eine Gefahr durch die KI gebe, dann liege sie auf der Ebene der Abhängigkeiten und Schnelligkeit der Entwicklungen, mit der sie einhergeht. Oder sie liegt im Menschen selbst, der durch eine selbstverschuldete Unmündigkeit im Sinne der Bequemlichkeit seine Grundfähigkeiten, sei es Freiheit, sei es Entscheidungs- oder Kritikfähigkeit durch die KI ersetzen lässt. Darum ist und bleibt für ihn die Erziehung die eigentliche Herausforderung auch im Umgang mit der Künstlichen Intelligenz.
Die Bremer Kunstwissenschaftlerin Katharina Erling und der Berliner Künstler und Journalist Christoph Scholz folgten der Spur des Ungenügens und der Sehnsucht im Kunstschaffen. Dabei erinnerte Scholz an die Worte Romano Guardinis: „Zum Wesen des Kunstwerks gehört, dass es wohl einen Sinn hat, aber keinen Zweck.“ De Künstler verlässt also die Funktionszusammenhänge des Lebens und versucht, das Leben selbst zur Anschauung zu bringen. Er bringt zum Ausdruck, wie er sich oder die Welt sieht, befragt, erlebt, erleidet, deutet, versteht. In der Kunst macht der Mensch „Schritte über sich hinaus“, wie es der Philosoph Robert Spaemann ausdrückt. Entsprechend lautete der Titel der Begegnung: „Mit den Augen des Künstlers über sich hinausblicken“.
Erling ging dem Thema am Beispiel von Caspar David Friedrichs Gemälde „Die Frau am Fenster“ nach. Eingebettet in einen streng geometrischen Bildaufbau bleibt dem Betrachter der Blick auf das, was sie sieht, verwehrt. Umso mehr wächst die Neugierde und weckt die Erwartung, dass es sich zeige.
Das Staunen gegenüber dem Wunder, das sich im Kleinen und Unscheinbaren zeigt, verdeutlichte sie anhand von Albrecht Dürers „Rasenstück“. Ein scheinbar einfaches Motiv, das aber durch die Detailtreue der Darstellung einzelner Blätter und Gräser die Wahrheit der Dinge in der Natur offenbart. Schließlich wandte sie sich Gerhard Richters fünf Versionen von Tizians Verkündigung in Venedig zu und dessen Versuch, diese „festzuhalten“. Es wäre doch schön, wenn so etwas wahr sein könnte, kommentierte Richter Tizians „Verkündigung“ in einem Interview. So umkreisen seine großformatigen Werke das Thema in immer neuen Annäherungen, bei denen das Vorbild geradezu in eine fast nebulöse Farbigkeit entschwindet.
Scholz, der selbst Porträtist ist, wandte sich der Wiedergabe des Menschen in der Kunst zu. Dem berühmten Portrait des spanischen Barockkünstlers Diego Velázquez von Papst Innozenz X. stellte er die Version von Francis Bacon gegenüber. Bei Velásquez kann man sich dem Blick des Papstes kaum entziehen. Majestätisch, als Herrscher sitzt er auf dem Thron, der Stellvertreter Gottes. Das Bild ist aber aufgrund seines ungeschönten Naturalismus kein wirkliches Repräsentations-Portrai. So sah sich Innozenz X durchaus persönlich „getroffen“: „troppo vero“ („zu echt“) soll er ausgerufen haben. Gerade in dieser Spannung zwischen Amt und individueller Persönlichkeit zeigt sich in diesem Werk das Unergründliche, das Geheimnis des Menschen.
Genau dies hat offensichtlich den irischen Malers Francis Bacon, zu seiner Studie nach Velázquez inspiriert, die als „der schreiende Papst“ bekannt ist. Der Stellvertreter Gottes auf Erden scheint regelrecht implodiert: an den Stuhl gefesselt, seine Körperlichkeit aufgelöst, nur der offene, schreiende Mund zeugt von einem Rest an vitalem Leben. Eine Darstellung des Menschen, der jeden Bezug und jede Beziehung verloren hat, ein Bild des Nihilismus als existenziellem Verlust von Sinnhaftigkeit.
Auch das letzte besprochene Werk stand im Bezug zu Prades' Ausführungen: der Mensch, der seine Identität als Gerufener und Berufener entdeckt. Caravaggios „Berufung des Heiligen Matthäus“. Festgehalten ist der dramatische Augenblick, in dem sich der Zöllner zwischen seinem bisherigen Leben als „Banker“ und dem Ruf zur Nachfolge Jesu entscheiden muss: Den eine Hand hält noch die Münzen fest, während er mit der anderen fragend auf sich deutet. Das Bild kreist aber um den Blick, der ganz von dem vorbeigehenden Jesus ergriffen scheint. Caravaggio entwirft ein dramatisches Geschehen, das den Betrachter einbezieht und in ihm die gleiche Frage wachruft. So wird die Kunst selbst zu einem Ausdruck des Menschen zwischen Ungenügen, Sehnsucht und Verheißung.
Einen Blick in das aktuelle dramatische Geschehen im Heiligen Land gab Andrea Avveduto vom Verein Pro Terra Sancta. Nach einem kurzen Blick auf die Geschichte des Konfliktes kamen vor allem Zeugen zu Wort. Sie zeigen, dass inmitten des Gaza-Krieges nach dem Terroranschlag der Hamas und der Spannungen im gesamten Nahen Osten, dennoch Keime der Hoffnung möglich sind. So etwa wenn ein Pater in Idlib, die Strafe des Sharia-Gerichtes für seinen 75-jährigen Freund auf sich nehmen will. Daraufhin hoben die muslimischen Richter das Urteil auf mit den Worten: „Wir können nicht mit Bösem vergelten, was du Gutes tun willst. Ihr seid frei.“ Auch später verzichteten sie auf Todesurteile. Für Avveduto ist das ein Beispiel dafür, dass, was das Herz des Menschen verändert, auch den Verlauf der Geschichte ändern kann.
Ein weiteres Beispiel sind für Avveduto sind jene Ordensschwestern, die ein behindertes und ausgesetztes Kind aufnahmen. Wenn dieses Kind von sich sagt, es geht mir gut, weil ich hier geliebt bin, dann hat, so meint er, die Frage, wo Gott wirkt unter diesen dramatischen Umständen eine Antwort gefunden. „Auch für die Verlorenen gibt es ein Zuhause“ steht über dem Eingang zu dem Kloster dieser Ordensfrauen. Immer wieder kommen Muslime zu ihnen, weil sie verstehen wollen, was sie zu solchem Handeln befähigt. Diese Zeugnisse fassen gewissermaßen die Botschaft des Rhein-Meetings zusammen: Es gibt eine Antwort auf das Ungenügen, oder zumindest eine Verheißung, wenn der Mensch sich selbst und die Umstände, denen er begegnet, wirklich ernstnimmt.