Cristiano Ferrario, Onkologe am Jewish General Hospital in Montréal, mit einer Patientin.

Ich schalte nicht ab

Cristiano Ferrario ist Onkologe in Montréal, Kanada, wo Euthanasie erlaubt ist. Bei seinen Patienten stellt er immer wieder fest, dass Vertrauen das Entscheidende ist
Anna Leonardi

„Meine Arbeit ist schön weil sie mir hilft, lebendig zu bleiben.“ Diese Aussage von Cristiano Ferrario, 47, Onkologe am Jewish General Hospital in Montréal, überrascht. Im Krankenhaus ist er bekannt für das laute Lachen, das gelegentlich aus dem Büro dringt, in dem er seine Patienten empfängt, selbst wenn die Diagnosen schlecht und die Therapien sehr belastend sind. Doch auch in der Endphase einer Erkrankung macht ihm seine Arbeit keine Angst. Die Leute fragen ihn oft, wie er es nach Feierabend schafft, abzuschalten von all dem Leid. Er antwortet: „Ganz einfach. Ich schalte nicht ab. Ich trage die Kranken, ihre Fragen, ihr Leid in mir: in Momenten der Stille, in Gesprächen mit meinen Freunden, in den Dingen, die ich tue. Ich lasse es zu, ich stelle mir weiter Fragen und lasse die Wunde offen. Und das hilft mir sehr, mein Leben zu leben.“

Arzt in Kanada zu sein ist ein bisschen, wie sich in einem Kreisverkehr mit vielen Ausfahrten zu bewegen. Seit 2016 ermöglicht das Gesetz den Zugang zu Euthanasie und assistiertem Suizid für Menschen, deren Tod „vernünftigerweise vorhersehbar“ ist. Nachdem zwei Ärzte den Fall evaluiert haben, erhält der Patient, der den Antrag gestellt hat, sofern er alle Voraussetzungen erfüllt, innerhalb weniger Tage Zugang zur sogenannten Maid (Medical assistance in dying). 2023 wurde die Regelung ausgeweitet auf Menschen mit psychischen Erkrankungen, wobei darunter praktisch jeder fällt, der sich in einer besonders vulnerablen Lage befindet, auch Mittellose, Behinderte und Drogenabhängige. „In Quebec gehen sieben von hundert Todesfällen auf das Konto von Maid“, erklärt Cristiano. „Das sind Zahlen, die zeigen, wie verbreitet dieses Phänomen ist, das inzwischen Teil der DNA des Landes ist. Wir haben die höchsten Fallzahlen in der Welt, noch vor Belgien und Holland. Die Zeitspanne zwischen dem Antrag und dem Ausführen der Sterbehilfe ist kurz, oft kürzer als für den Zugang zu anderen Dienstleistungen, wie zum Beispiel einer Aufnahme des Patienten in die Palliativversorgung. „Für mich war es ein Schock, was ich bei einem meiner Patienten erlebt habe, der nur fünf Tage nach seinem Antrag Sterbehilfe erhielt. Seine letzten Tage verbrachte er eingeschlossen in seinem Zimmer, ohne jemanden zu sehen. Es war unmöglich festzustellen, ob er Schmerzen hatte. Er sprach nicht einmal mehr mit seiner Frau, damit ja nichts seine Entscheidung beeinflussen konnte. Ich frage mich noch heute, wie viel Leid er auf sich genommen hat, um ‚nicht leiden zu müssen‘.“

Viele seiner Patienten suchen jedoch das Gespräch mit ihm. Cristiano bestellt sie alle drei Wochen zu Nachuntersuchungen ein. „Das ist ein ganz wichtiger Teil der Betreuung, nicht nur ein Extra. Man schaut sich gemeinsam die Testergebnisse an, spricht über den Allgemeinzustand. Aber es kommen auch alle anderen Dinge auf den Tisch, die die jeweilige Situation mit sich bringt.“ Eines Tages kam eine Patientin in seine Sprechstunde, begleitet von ihrem Ehemann. Beide wirkten sehr ängstlich und belastet wegen der Chemotherapie. Aus onkologischer Sicht lief es in diesem Fall gut, aber sie war deprimiert und hatte Zweifel: „Herr Doktor, ist es das wirklich wert, all das durchzustehen? Ich weiß nicht, ob ich weitermachen will. Auch mein Mann hält es nicht mehr aus …“ Cristiano ist überrascht von der Frage. „Sie reagieren gut auf die Therapie“, sagt er. „Sie können trotz Ihrer Krankheit noch so viel tun. Es gibt noch tausende Gelegenheiten, die Sie glücklich machen können.“ Sie sprechen ausführlich über ihren Alltag, ihre Kinder, ihr Haus. Dann fügt Cristiano hinzu: „Natürlich haben sich in den letzten Jahren einige Dinge für Sie verändert. Aber wir müssen uns freimachen von all den Bildern, die wir von uns selbst haben. Denken Sie nicht mehr daran, wie es früher war, schauen Sie auf das, was jetzt da ist.“ Cristiano staunt oft über seine Patienten. „Ich kann entweder denken, das sind arme Schweine sind, denen das Schicksal übel mitgespielt hat. Oder ich kann staunen, dass sie da sind und auf den Termin bei mir warten, damit wir ein Stück des Weges gemeinsam bewältigen können.“

Das Oratoire Saint Joseph auf dem Mont Royal in Montréal.

Als er an einem Wochenende Bereitschaftsdienst hat, geht es einer Patientin plötzlich und unerwartet deutlich schlechter. Cristiano kennt ihre Krankengeschichte nicht genau und will daher mit ihrem Mann sprechen. Außerdem lässt er den Arzt rufen, der sie behandelt. Als beide schließlich da sind, erläutert er ihnen die Situation. Der Ehemann, praktizierender Muslim, unterbricht ihn: „Herr Doktor, Gott wird sich ihrer annehmen. Tun Sie alles, was möglich ist.“ Cristiano ist nicht wohl dabei. „Wir standen da an einem Scheideweg. Wir mussten im Interesse der Patientin abwägen, was wir noch versuchen sollten, um sie am Leben zu halten. Und um welchen Preis.“ Er verabreicht ihr Antibiotika und Schmerzmittel. Doch bei dem Schweregrad der Erkrankung, die sie hat, fragt er sich, ob es wirklich sinnvoll ist, sie zu beatmen. „Das ist ein schmaler Grad. Man möchte natürlich eine Art mathematische Gewissheit haben, aber die gibt es nicht. Man hat Protokolle und jahrelange klinische Erfahrung, aber das ganze Risiko solcher Entscheidungen ist einem immer präsent. Man kann nur versuchen, alles sorgfältig abzuwägen, um zu erkennen, wie es mit diesem Leben steht. Und was man tun kann, als Arzt und als Mensch.“

Während die Stunden vergehen, bespricht Cristiano jeden Schritt und jede Überlegung mit dem Ehemann. Da der Zustand der Frau so schnell und unerwartet schlechter geworden war, hatten sie keine Zeit gehabt, sich vorzubereiten. „Ich musste mit ihm das durchgehen, wofür wir normalerweise Monate haben, in denen wir uns auf diese Situation vorbereiten können, ohne Schuldgefühle oder instinktive Reaktionen.“ Der Mann ändert seine Haltung, von einer sehr interventionistischen zu einer milderen. Am Abend entscheiden sie, die Patientin nicht zu intubieren. „Die Existenz Gottes war nicht mehr das Axiom, von dem wir uns mechanisch die Rettung dieses Lebens erwarten konnten, sondern ein Faktum, aufgrund dessen wir auf das schauen konnten, was mit der Patientin geschah, und dem folgen.“

Das ist ein „Geschenk“, das einem eine solche Erkrankung fast immer macht: „Sie nimmt uns den falschen Eindruck, wir hätten alles unter Kontrolle. Daher geschieht es gar nicht selten“, sagt Cristiano, „dass Menschen, die vom Krebs genesen sind, nach all dem ‚Kampf‘ zusammenbrechen. Sie brechen zusammen, weil sie nicht zurückkehren können und wollen zu dem Leben, das sie vor der Erkrankung hatten, zu der falschen Illusion, jeden Aspekt des Lebens unter Kontrolle zu haben. Sie wollen das Vertrauen nicht wieder verlieren, mit dem auf die Wirklichkeit zu schauen sie gelernt hatten und durch das sie sich trotz ihrer Krankheit frei fühlten.“

Marie erhielt die erste Krebsdiagnose, als sie 27 Jahre alt war. Nach einer radikalen und sehr belastenden Therapie schien der Tumor völlig verschwunden zu sein. Doch zwei Jahre später kommt er zurück. Marie verschließt sich, sie will nichts mehr von Therapien wissen. Obwohl die Ärzte der Station ihr Mut machen mit Zahlen und Statistiken, will sie das alles nicht noch einmal durchmachen: den Haarausfall, die Übelkeit, die Erschöpfung, das durch das Kortison aufgedunsene Gesicht. Die Kollegen bitten Cristiano, er solle versuchen, sie zu überzeugen. Es ist der Nachmittag des Heiligen Abends, als er ihr Zimmer betritt. „Ich stellte mich vor und wir unterhielten uns. Von ihrem Fenster aus konnte man die schöne Sankt Joseph-Kirche sehen, die direkt gegenüber auf einem Hügel im Stadtzentrum liegt. Ich sagte ihr, es sei ein Glück, die schönste Kirche der Stadt sehen zu können. Sie lächelte.“ Cristiano geht ab da jeden Tag zu ihr, manchmal steckt er nur den Kopf durch die Tür oder spricht kurz mit ihrer Mutter. Dann eines Tages kommt Marie selbst auf die Frage nach der Therapie zurück. „Sie wollte wissen, welche verschiedenen Möglichkeiten es gibt und was die Nebenwirkungen sind. Ich hörte mir ihre Ängste an und versuchte, ihr Mut zu machen. Ich erklärte ihr, wenn sie eine Therapie mache, könne sie wahrscheinlich wieder laufen. Zum Spaß sagte ich ihr, wenn es gut liefe, würden wir gemeinsam den Hügel zur Sankt-Josephs-Kirche hochsteigen. Ich begänne schon einmal zu trainieren.“ Marie beschloss, es noch einmal zu versuchen. Die Therapie schlug gut an und es ging ihr besser. Nach ein paar Monaten stiegen Cristiano und sie gemeinsam die Stufen zu der Kirche auf dem Mount Royal hoch. Was bei Marie die Veränderung bewirkt hat, kann sich der Arzt nach wie vor nicht erklären. „Warum hast du bei mir schließlich doch ja gesagt?“, fragte er sie. „Ich habe dir doch die gleichen Therapien vorgeschlagen wie mein Kollege ...“ Marie zögert nicht: „Weil ich ihm in die Augen geschaut und gesehen habe, dass er nicht glücklich war. Ich konnte ihm nicht vertrauen, ich hatte zu viel Angst. Im Krankenhaus habe ich alle Ärzte ‚geröntgt‘, die zu mir kamen, um mit mir zu sprechen, bis ich jemanden fand, dem es nicht darum ging, nicht zu sterben, sondern zu leben.“