„In Christus verliebt“
Wir haben Benedikt XVI. um eine persönliche Erinnerung an Don Giussani gebeten. Der emeritierte Papst hat uns vorgeschlagen, seine Predigt beim Requiem noch einmal zu veröffentlichen. Sie sei das beste und glaubwürdigste Zeugnis, das er geben könne.Liebe Mitbrüder im Bischofs- und Priesteramt, „da freuten sich die Jünger, dass sie den Herrn sahen.“ Diese Worte des Evangeliums, die wir soeben gehört haben, weisen uns auf den Mittelpunkt der Persönlichkeit und des Lebens unseres lieben Don Giussani hin.
Don Giussani wuchs – wie er selbst sagt – in einem Haus auf, das arm an Brot, aber reich an Musik war, und so war er von Anfang an berührt, ja sogar verwundet von der Sehnsucht nach Schönheit. Und er gab sich nicht mit irgendeiner Schönheit zufrieden, mit einer banalen Schönheit: Er suchte die Schönheit an sich, die unendliche Schönheit. Und so hat er Christus gefunden, und in Christus die wahre Schönheit, den Weg des Lebens, die wahre Freude.
Schon als junger Mann hat er mit anderen Jugendlichen eine Gemeinschaft ins Leben gerufen, die sich Studium Christi nannte. Ihr Programm bestand darin, von nichts anderem als Christus zu sprechen, weil ihnen alles andere als Zeitverschwendung erschien. Natürlich hat er es später verstanden, eine gewisse Einseitigkeit zu überwinden, aber als Substanz blieb ihm doch immer, dass nur Christus allem in unserem Leben Sinn gibt. Er hat den Blick seines Lebens und seines Herzens immer fest auf Christus gerichtet. Er hat so verstanden, dass das Christentum kein intellektuelles System, kein Bündel von Dogmen, kein Moralismus, sondern eine Begegnung ist, eine Liebesgeschichte: Es ist ein Ereignis.
Dieses Sich-Verlieben in Christus, diese Liebesgeschichte, die sein ganzes Leben ist, war dennoch weit entfernt von jedwedem oberflächlichen Enthusiasmus, von jeder Art vager Gefühlsseligkeit. Indem er Christus sah, hat er wirklich gewusst, dass Christus zu begegnen Christus folgen heißt, dass diese Begegnung ein Weg ist, ein Pfad. Ein Pfad, der – wie wir es im Psalm gehört haben – auch die „finstere Schlucht“ durchquert. Und im Evangelium haben wir gerade von der letzten Dunkelheit des Leidens Christi gehört, der scheinbaren Abwesenheit Gottes, der Finsternis der Sonne der Welt. Er wusste, dass nachzufolgen eine „finstere Schlucht“ zu durchqueren bedeutet, das heißt auf dem Weg des Kreuzes zu gehen und dennoch in der wirklichen Freude zu leben.
Warum ist das so? Der Herr selbst hat dieses Geheimnis des Kreuzes, das in Wirklichkeit das Geheimnis der Liebe ist, mit einer Formel übersetzt, in der die ganze Wirklichkeit unseres Lebens zum Ausdruck kommt. Der Herr sagt: „Wer sein Leben zu bewahren sucht, wer das Leben für sich haben will, wird es verlieren, wer es dagegen verliert, wird es gewinnen.“
Don Giussani wollte wirklich das Leben nicht für sich haben, sondern er hat das Leben hingegeben. Und gerade dadurch hat er das Leben nicht nur für sich, sondern für viele andere gewonnen. Er hat das verwirklicht, was wir im Evangelium gehört haben: Er wollte nicht Herrscher sein, sondern er wollte dienen. Er war ein treuer Diener des Evangeliums. Er hat den ganzen Reichtum seines Herzens verteilt. Er hat den göttlichen Reichtum des Evangeliums, von dem er durchdrungen war, ausgeteilt. Indem er so, sein Leben hingebend, gedient hat, hat sein Leben reiche Frucht gebracht, wie wir in diesem Moment sehen. Er ist wirklich Vater von vielen geworden und hat gerade dadurch, dass er die Personen nicht zu sich, sondern zu Christus geführt hat, die Herzen gewonnen. Er hat dazu beigetragen, die Welt besser zu machen, die Tore der Welt für den Himmel zu öffnen.
Diese Zentralität Christi in seinem Leben hat ihm auch die Gabe der Unterscheidung gegeben: die Gabe, die Zeichen der Zeit auf rechte Art und Weise in einer schwierigen Zeit voller Versuchungen und Irrtümer, wie wir wissen, zu entschlüsseln. Denken wir auch an 1968 und die Folgejahre, als eine erste Gruppe der Seinen nach Brasilien ging und sich dort mit dieser extremen Armut, mit diesem Elend konfrontiert sah. Was tun? Wie antworten? Und die Versuchung war groß, zu sagen: Jetzt müssen wir für einen Augenblick von Christus absehen, von Gott absehen, weil es noch größere Dringlichkeiten gibt. Wir müssen zunächst anfangen, die Strukturen zu verändern, die äußeren Umstände, wir müssen zuerst die Welt verbessern, dann können wir auch den Himmel wiederfinden. Es war die große Versuchung dieses Augenblicks, das Christentum in einen Moralismus zu verwandeln, den Moralismus in eine Politik, den Glauben durch das Tun zu ersetzen. Denn was bewirkt der Glaube? Man kann sagen: In diesem Moment müssen wir etwas tun. Und doch verliert man sich auf diesem Weg in Einzelheiten, wenn man den Glauben durch den Moralismus, den Glauben durch das Tun ersetzt. Man verliert vor allem die Kriterien und die Orientierungspunkte, und am Ende baut man nicht auf, sondern man spaltet.
Monsignore Giussani hat mit seinem unerschütterlichen und unfehlbaren Glauben gewusst, dass auch in dieser Situation Christus, die Begegnung mit Christus, zentral bleibt. Denn wer nicht Gott gibt, gibt zu wenig. Wer nicht Gott gibt, wer nicht hilft, Gott im Antlitz Christi zu finden, baut nicht auf, sondern zerstört, weil er bewirkt, dass die menschliche Handlung sich in ideologischen und falschen Dogmatismen verliert.
Don Giussani hat die Zentralität Christi bewahrt und der Menschheit gerade so mit sozialen Werken und dem notwendigen Dienst in dieser schwierigen Welt, in welcher die Verantwortlichkeit der Christen für die Armen der Welt sehr groß und drängend ist, geholfen. Wer glaubt, muss auch die „finstere Schlucht“ durchqueren, die finsteren Schluchten der Unterscheidung, und damit auch der Widrigkeiten, der Widersprüche, der ideologischen Abneigungen, bis hin zu Drohungen, die Seinen physisch aus dem Weg zu räumen, um sich von dieser anderen Stimme zu befreien, die sich nicht mit dem Tun zufrieden gibt, sondern eine größere Botschaft bringt und damit auch ein größeres Licht.
Monsignore Giussani hat in der Kraft des Glaubens unerschütterlich diese finsteren Schluchten durchquert, und natürlich hatte auch er innerhalb der Kirche Standortschwierigkeiten wegen der Neuheit, die er mit sich brachte. Immer wenn der Heilige Geist gemäß den Bedürfnissen der Zeit das Neue hervorbringt, das in Wirklichkeit die Rückkehr zu den Ursprüngen ist, ist es schwierig, sich zu orientieren und das friedliche Miteinander der großen Gemeinschaft der universalen Kirche zu finden. Die Liebe Don Giussanis zu Christus war auch Liebe für die Kirche, und so ist er immer treuer Diener geblieben, treu dem Heiligen Vater, treu seinen Bischöfen. Mit seinen Gründungen hat er auch das Geheimnis der Kirche neu gedeutet.
Comunione e Liberazione lässt uns sofort an diese eigene Entdeckung der modernen Zeit denken, die Freiheit, und es lässt uns an das Wort des heiligen Ambrosius „Ubi fides ibi libertas“ [Wo Glaube ist, ist Freiheit] denken. Kardinal Biffi hat unsere Aufmerksamkeit auf die beinahe Übereinstimmung dieses Wortes des heiligen Ambrosius mit der Gründung von Comunione e Liberazione gelenkt. Indem er so die Freiheit als eine dem Glauben eigene Gabe hervorgehoben hat, hat er uns auch gesagt, dass die Freiheit der Gemeinschaft bedarf, um eine wahre menschliche Freiheit, eine Freiheit in Wahrheit zu sein. Eine isolierte Freiheit, eine Freiheit nur für das Ich, wäre eine Lüge und müsste die menschliche Gemeinschaft zerstören. Die Freiheit braucht die Gemeinschaft, um wahr und damit auch wirksam zu sein, und zwar nicht irgendeine Gemeinschaft, sondern letztlich die Gemeinschaft mit der Wahrheit selbst, mit der Liebe selbst, mit Christus, mit dem dreifaltigen Gott. So baut man eine Gemeinschaft auf, die Freiheit schafft und Freude schenkt.
Die andere Gründung, die Memores Domini, lässt uns erneut an das zweite Evangelium von heute denken: Das Gedächtnis, das der Herr uns in der heiligen Eucharistie gegeben hat, ist ein Gedächtnis, das nicht nur Erinnerung des Vergangenen ist, sondern die Gegenwart schafft. Das Gedächtnis, in dem er selbst sich in unsere Hände und in unsere Herzen gibt und uns so leben lässt. Finstere Schluchten durchschreiten: In der letzten Etappe seines Lebens musste Don Giussani die finstere Schlucht der Krankheit, des Gebrechens, des Schmerzes und des Leidens durchschreiten. Aber auch hier war sein Blick auf Jesus gerichtet. Und so blieb er in allem Leiden wahr. Indem er Jesus sah, konnte er sich freuen, war die Freude des Auferstandenen gegenwärtig, der auch im Leiden der Auferstandene ist und der uns das wahre Licht und die wahre Freude schenkt. Während er dieses Tal durchschritt, wusste er – wie es der Psalm sagt: „Ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir und im Haus des Herrn darf ich wohnen für lange Zeit.“ Dies war seine große Kraft, zu wissen: „Du bist bei mir.“
Meine lieben Gläubigen, vor allem meine lieben Jugendlichen, nehmen wir uns diese Botschaft zu Herzen, verlieren wir Christus nicht aus den Augen und vergessen wir nicht, dass man ohne Gott nichts Gutes aufbaut und dass Gott rätselhaft bleibt, wenn er nicht im Antlitz Christi erkannt wird.
Jetzt ist euer lieber Freund Don Giussani in der anderen Welt angekommen, und wir sind überzeugt, dass sich die Tür des Hauses des Vaters geöffnet hat. Wir sind überzeugt, dass sich dieses Wort vollständig erfüllt: „Die Jünger freuten sich, dass sie den Herrn sahen.“ Er freut sich mit einer Freude, die ihm niemand nehmen kann. In diesem Augenblick wollen wir dem Herrn danken für das große Geschenk dieses Priesters, dieses treuen Dieners des Evangeliums, dieses Vaters. Vertrauen wir seine Seele der Güte seines und unseres Herrn an.
In dieser Stunde möchten wir insbesondere auch für die Gesundheit des Heiligen Vaters beten, der wieder im Krankenhaus liegt. Der Herr möge ihn begleiten und ihm Kraft und Gesundheit gewähren. Beten wir auch darum, dass der Herr uns erleuchtet, und uns den Glauben schenkt, der die Welt aufbaut – den Glauben, durch den wir den Weg zum Leben finden, und der uns zur wahren Freude führt. Amen.
#100Zeugnisse