Michael Waldstein

Michael Waldstein. „Giussani war ein sehr lebendiger Mensch“

Der österreichisch-amerikanische Theologe hat über Balthasar promoviert. „Aber die Begegnung mit Don Giussani ist ein unerwartetes Geschenk, von dem ich auch weiterhin zehre.“
Luca Fiore

„Das größte Geschenk, das ich erhalten habe, war dass ich geboren wurde. Aber die Begegnung mit Don Giussani ist ein unerwartetes Geschenk in meinem Leben, von dem ich auch weiterhin zehre.“ Michael Waldstein wurde 1954 in Salzburg geboren. Er lebt allerdings schon seit Jahrzehnten in den USA. Dort hat er auch Philosophie und Theologie studiert. Waldstein ist Experte für Bibelwissenschaften, besonders das Johannesevangelium, und gehörte zu den Periti der von Benedikt XVI. einberufenen Synoden über die Eucharistie und das Wort Gottes. Papst Benedikt ernannte ihn auch zum Mitglied der Päpstlichen Akademie des heiligen Thomas von Aquin. Nach seiner Tätigkeit an der Notre Dame University lehrt er inzwischen als Bibelwissenschaftler an der Franciscan University in Steubenville (Ohio). Seine Begegnung mit Comunione e Liberazione geht auf die frühen 1980er-Jahre in Rom zurück, wo er am Päpstlichen Bibelinstitut ein Lizenziat erwarb.

Wie sind Sie CL begegnet?
Ich war 27 Jahre alt und schrieb gerade meine Doktorarbeit in Philosophie über die Schönheit im Denken Hans Urs von Balthasars. Doch in Dallas, wo ich studierte, gab es niemanden, der sich mit diesem Thema wirklich auskannte. Daher schrieb ich direkt an von Balthasar, der mich an zwei Leute in Rom verwies: den jetzigen Kardinal Marc Ouellet und den Jesuiten Jacques Servais. Letzterer war es, der mich zu einer Messe in Santa Maria in Trastevere mitnahm. Er sagte: „Ich möchte dich mit einer Gruppe von Leuten bekanntmachen, die Balthasar nahe stehen ...“ Es war eine Messe der Gemeinschaft von CL.

Und was haben Sie da erlebt?
Ich war beeindruckt von der Atmosphäre. Die sorgsame Art, wie sie die Liturgie feierten. Die Lieder. Die bewegende Predigt von Don Giacomo Tantardini. Aber was mich am meisten erstaunt hat, war danach vor der Kirche: die ganzen jungen Leute in meinem Alter. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Dort lernte ich den Philosophen Massimo Borghesi kennen, der mir ein sehr guter Freund wurde. Ich fragte mich, was so ein Leben, etwas so Lebendiges hervorbringen konnte. Ich wollte Don Giussani treffen.

Schweiz 1971, Don Giussani mit Hans Urs von Balthasar und Angelo Scola (©Fraternità CL)

Wann haben Sie ihn kennengelernt?
Borghesi nahm mich kurz darauf mit, als Giussani nach Rom kam. Er hat einen unglaublichen Eindruck auf mich gemacht. Er war nicht wie so viele Intellektuelle, die sich oft in mehr oder weniger interessanten Reden verlieren. Er war ein sehr lebendiger Mensch. Kurz vor meiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten hatte ich Gelegenheit, mit ihm persönlich zu sprechen, und er erzählte mir, dass ein paar junge Leute von CL zum Studium nach New York, Washington und Boston gehen würden. Ich bot an, ihnen bei der Suche nach einer Unterkunft zu helfen. Als sie dann kamen, wurden wir schnell Freunde und haben mit dem Seminar der Gemeinschaft angefangen. Später lernte ich Giussani näher kennen, als er persönlich in die USA kam. Da ich Italienisch konnte, bat man mich, für ihn zu dolmetschen.

Was war das für eine Erfahrung?
Eine sehr schöne. Ich setzte mich neben ihn, hörte ihm zu und wiederholte auf Englisch, was er gerade gesagt hatte. Der Eindruck, den ich beim ersten Mal gehabt hatte, vertiefte sich immer mehr. Ich habe mich quasi in ihn verliebt, ich wüsste nicht, wie ich es sonst beschreiben sollte.

Dann sind Sie nach Harvard gegangen.
Ja, ein sehr schwieriges Umfeld. Sehr feindselig gegenüber dem Katholizismus. In der Zwischenzeit hatte ich nicht nur die Bücher zum Seminar der Gemeinschaft gelesen, sondern auch einige Texte von Giussani übersetzt. Meine Freundschaft mit Leuten aus der Bewegung und die Gestalt Don Giussanis waren mir dort eine große Hilfe. Ich hatte den christlichen Glauben gründlich studiert, aber das Kriterium zum Verständnis ist auch in der Theologie das Leben. Jesus hat selber nichts geschrieben. Er hat eine Gemeinschaft von Menschen ins Leben gerufen, die sich dann im Laufe der Geschichte ausgebreitet hat. Wenn man es beim Studieren belässt, ist es nicht leicht zu verstehen, dass dies der entscheidende Aspekt des Christusereignisses ist.

Sie haben sich vor allem mit dem Johannesevangelium beschäftigt.
Ja. Am Biblicum in Rom war ich Schüler von Ignace de la Potterie, dem großen belgischen Exegeten, der mehrfach beim Meeting in Rimini zu Gast war. Er war ein großartiger Interpret des Johannesevangeliums. Aber Giussani hat mir noch einmal eine andere Lesart eröffnet. Es fängt an mit dem Ausruf von Johannes dem Täufer: „Seht, das Lamm Gottes“. Ein rätselhaftes Wort. Doch dann, so erklärt es Giussani, fragt Jesus selbst: „Was sucht ihr?“ Der Ausgangspunkt ist die Sehnsucht, die diese Menschen im Herzen trugen. Davon geht Christus aus. Und dann kommt ihre Frage: „Wo wohnst du?“ Das griechische Verb mένειν (bleiben) ist sehr wichtig bei Johannes. Man könnte also auch übersetzen: „Wo bleibst du?“, „Wo schläfst du?“ Und der Apostel berichtet weiter: Sie „blieben jenen Tag bei ihm; es war um die zehnte Stunde.“

Was hat sie beeindruckt an der Art, wie Giussani es beschreibt?
Es ist wie bei einem Paar, das sich nach vielen Jahren noch genau an den Moment erinnert, in dem es sich zum ersten Mal begegnet ist. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag, an dem ich meine Frau zum ersten Mal gesehen habe. Die Genauigkeit der Erinnerung zeigt, wie wichtig ein Ereignis für das Leben eines Menschen ist. Giussanis Art, das Evangelium zu lesen, war für mich ganz wichtig. Es war neu, auch wenn er nichts anderes tat, als das zu verdeutlichen, was bereits im Text stand. Aber mir kam es vor, als könne sein Zugang diese Worte auch für mich zu einem Leben werden lassen.

Und war es so?
Seitdem habe ich in jeder Stadt, in der ich gearbeitet habe, immer eine Gemeinschaft der Bewegung gefunden und versucht, an diesem Leben teilzunehmen. Manchmal mehr, manchmal weniger. Aber auch, wenn ich länger nicht dabei gewesen war, wurde ich immer wieder herzlich aufgenommen. Auf Zeiten des „Weniger“ folgten solche des „Mehr“.

Worin besteht Ihrer Meinung nach die Aktualität von Giussanis Denken?
Sieht man sich an, in welche Richtung die Forschungs-Finanzierung sich momentan entwickelt, dann stellt man fest, dass die Naturwissenschaften dominieren: Physik, Chemie und Medizin. Das ist eine Denkweise, die ihre Wurzeln bei Descartes und Bacon hat. Es geht dabei vor allem darum, die Natur zu beherrschen, um das Leben des Menschen zu verbessern. Aus dieser Sicht ist die Königin der Wissenschaften die Mechanik, eine mathematische Disziplin. Und der Mathematik geht es ihrem Wesen nach nicht um das Gute, das Schöne, die Sehnsucht. So wird das Gegebene, die Natur zu einem neutralen Gegenstand, über den der Mensch immer mehr Macht gewinnt. Wie eine Leinwand, auf die man seine Wünsche, seine Vorstellung von Schönheit und Gerechtigkeit projiziert, die aber in sich keine Bedeutung hat. Der Mensch selbst hat kein Wesen. Er ist wie eine mechanische und chemische Maschine, die sich zufällig entwickelt hat ohne Sinn. Der Sinn wird auf diese Leinwand projiziert, und die Freiheit des Menschen besteht in diesen Projektionen.

Und was hat Giussani mit all dem zu tun?
Er legt den Schwerpunkt darauf, das Leben voll und ganz zu leben, „stets intensiv das Wirkliche leben“, weil in ihm der Sinn liegt. Das Gute, Gerechtigkeit und Schönheit liegen nicht außerhalb des Seins. Auch wenn das vorherrschende Denken uns suggeriert, sie seien subjektiv. Heute, inmitten der Pandemie, scheint sich die Bedeutung des naturwissenschaftlichen Ansatzes etwas abgeschwächt zu haben. Die Medizin, die großartige Erfolge erzielt hat, scheint keine zureichenden Antworten mehr zu geben. Ja, es gibt jetzt Impfstoffe, und das ist eine wunderbare Erfindung, eine große Errungenschaft unserer Herrschaft über die Natur. Aber gleichzeitig haben wir auch gesehen, dass die Errungenschaften der Wissenschaft nicht ausreichen. Wir fühlen uns machtlos, und das ist für viele ein lähmendes Gefühl. Nach Giussani dagegen kann man sein Leben immer in Fülle und mit Freude leben, weil Christus der wahre Retter der Welt ist. Selbst wenn er sich ohnmächtig fühlt, weiß der Christ doch, dass es eine Erlösung gibt, durch das Kreuz hindurch zwar, aber es gibt sie.

Eine andere Art des Vernunftgebrauchs.
Das Wirkliche voll und ganz zu leben, ist vernünftig. Auch ein richtiges Verständnis davon, was die Vernunft ist, hängt von der Erfahrung des Christusereignisses ab. Vernunft ist totale Offenheit, ohne Begrenzungen durch Vorurteile. Alles auf Naturwissenschaft zu reduzieren, ist ein solches Vorurteil. In der philosophischen Debatte in den USA ist oft vom „Uhrmacher-Argument“ die Rede, das besagt: Wenn wir uns die Welt als Uhrwerk vorstellen, kommen wir nicht umhin, einen Konstrukteur, also Gott, anzunehmen, der sie erdacht hat. Aus streng naturwissenschaftlicher Sicht sticht dieses Argument nicht. Denn wenn wir den Mechanismus erklären können, der das Funktionieren der Körper regelt, bis hinunter zur Ebene der Elementarteilchen, dann besteht keine Notwendigkeit, einen „Konstrukteur“ zu postulieren. Die Physik braucht keinen Uhrmacher. Wenn wir jedoch an eine Uhr im wirklichen Leben denken, wäre es merkwürdig, nicht von der Existenz eines Menschen auszugehen, der sie entworfen und gebaut hat. Es wäre nicht vernünftig. Das Problem sind nicht die Gesetze der Physik, sondern die Anmaßung, man könne mit ihnen alles erklären.

Benedikt XVI. würde sagen, dass wir „unsere Vernunft erweitern“ müssen.
Der Erfolg der Naturwissenschaften ist bewundernswert, das ist keineswegs etwas Negatives. Darin steckt auch viel Wahrheit. Aber man kann nicht alles auf einen Mechanismus reduzieren. Was ich an Giussani bewundere, ist sein Wunsch, wirklich nichts auszuschließen. In Platons Politeia sagt Sokrates, dass wir einen Philosophen, Liebhaber der Weisheit, denjenigen nennen, der alles aufnimmt, was es gibt. Dieser Ansatz ist heute extrem wichtig, für den öffentlichen Diskurs und in der Erziehung.