RHEIN-MEETING 2015 - Das Wagnis der Erziehung

Der pädagogische Vorschlag von Don Giussani ist gerade in einer zunehmend multikulturellen Gesellschaft eine Antwort auf die Sehnsucht des Menschen nach Erfüllung.
Chistoph Scholz

Das machte auf dem diesjährigen Rhein-Meeting der Präsident der Fraternität von Comunione e Liberazione (CL), Don Julián Carrón, deutlich. Bei dem Treffen vom Freitag bis Sonntag vergangener Woche im Kölner Maternushaus erlebten knapp 1.000 Besucher, dass das Charisma von CL für jene, die ihm heute zum ersten Mal begegnen, genauso überraschend und überzeugend sein kann wie für die ersten Schüler Don Giussanis in Mailand vor 60 Jahren. Das Motto lieferte diesmal der Titel von Giussanis wichtigstem pädagogischem Werk, Das Wagnis der Erziehung, das Anfang März in einer neubearbeiteten Ausgabe auf Deutsch erschienen ist

Das Rhein-Meeting, Initiative einer Gruppe junger Berufstätiger, fand schon zum zweiten Mal statt und hat inzwischen weitere Kreise gezogen. So übernahm diesmal neben dem Europäischen Parlament auch die Bildungsministerin des Landes Nordrhein-Westfalen, Sylvia Löhrmann (Grüne), die Schirmherrschaft und sprach zu Beginn der Veranstaltung ein Grußwort. Der emeritierte Erzbischof von Köln, Kardinal Joachim Meisner, wies in seiner Grußadresse darauf hin, dass Erziehung bedeute, „sich in den Dienst des anderen Menschen stellen, um ihm zu helfen, all das zu verwirklichen, was Gott in ihn hineingelegt hat“.

Von den Anfängen der Bewegung berichtete die emeritierte Mailänder Sozialpsychologin Eugenia Scabini, eine der ersten Schülerinnen des vor zehn Jahren verstorbenen Gründers von CL. „Wir waren damals“, so sagte sie, „vor allem überrascht, dass das Christentum zu leben uns helfen konnte, die Welt und uns selbst zu verstehen.“ Ob man gemeinsam das Violinkonzert von Beethoven hört oder sich mit Mathematik beschäftigt, ob man karitative Werke ins Leben ruft oder sich gesellschaftspolitisch engagiert, zusammen feiert oder Ferien macht:  Man muss jungen Menschen nicht nur klar eine Bedeutung der Dinge vorschlagen, sondern sie auch unermüdlich dazu anregen, den Vorschlag, den man ihnen macht, in ihrem persönlichen Leben zu prüfen, erklärte Scabini mit Verweis auf Giussani. Und, so betonte sie, dies galt damals und gilt genauso heute im Zeitalter der „digital natives“.

Beim Rhein-Meeting gilt das nicht zuletzt für die Jugendlichen und Studenten, die sich als Helfer zur Verfügung stellen. Sie sind nicht nur als Hostessen oder Saalordner tätig, sondern arbeiten auch an der Gestaltung des Programms mit. Teilweise stellen sie auch die Podiumsteilnehmer vor und fassen das Gesagte anschließend aus dem Blickwinkel ihrer eigenen Erfahrung zusammen. So dankte der Kölner Student Dennis Bensiek Frau Professor Scabini für ihr Zeugnis, durch das sie es ihm ermöglicht habe, Giussani „zu begegnen“, obgleich er ihn nie persönlich kennengelernt habe.

Die Bildungsministerin des Landes Nordrhein-Westfalen, Sylvia Löhrmann

Überrascht waren auch jene Lehrer und Schulleiter aus der Erzdiözese Köln, die sich zu einem Tischgespräch mit dem Vorsitzenden eines italienischen Schulleiterverbandes, Roberto Pellegatta, und dem Leiter des Colegio Kolbe in Madrid, Angel Mel, trafen. Es beeindruckte sie, dass es nicht wie sonst üblich um Fragen der Schulstruktur oder neue pädagogische Konzepte ging, sondern zunächst um sie selbst. Zur Debatte stand die These von Hannah Arendt: „In der Erziehung entscheidet sich, ob wir die Welt genug lieben, um Verantwortung für sie zu übernehmen.“

Angel Mel machte auch in seinem Beitrag bei der öffentlichen Veranstaltung deutlich, das größte Problem der Erziehung sei heute, dass die Eltern ihren Kindern „jede Herausforderung und alles Leid ersparen wollen“. Damit verhinderten sie, dass sich die Kinder der Wirklichkeit stellen, von ihr lernen und an ihr reifen können. Das Ergebnis sei „fehlende Einsatzbereitschaft, weil die Kinder wissen, sie bekommen sowieso alles“. Dadurch würden sie unfähig, das Leben wirklich zu genießen, meinte Mel.



Wichtigste Aufgabe des Lehrers ist es seiner Ansicht nach, die Schüler zu ermutigen und ihnen Vertrauen zu schenken, damit sie beginnen können, ohne Angst vor den Umständen zu leben. Deshalb sollten Erzieher nicht so sehr die Momente beachten, in denen das Kind vielleicht scheitert, sondern diejenigen, in denen ihm etwas gelingt – und seien es auch noch so wenige. „Wenn mein Vater nicht immer wieder das Wagnis eingegangen wäre, mich Dinge alleine ausprobieren zu lassen, wäre ich heute nicht hier.“

Mel schreibt dem Erzieher vor allem eine Vorbildfunktion zu: „Nur was für ihn wichtig oder interessant ist, wird auch für die Kinder wichtig und interessant.“ Für Lehrer bedeute das vor allem, dass sie Liebe und Leidenschaft für die jungen Menschen mitbringen müssten. Ebenso klar ist für Mel, dass Erziehung nur innerhalb einer Gemeinschaft möglich ist. Auch die Leiterin des Erzbischöflichen Sankt Ursula-Gymnasiums in Brühl, Claire Pickartz, stellte heraus, Erziehung zur Freiheit sei nur im Beziehungsraum einer Gemeinschaft möglich. Schule ist für sie ein „Ort der Freundschaft, an dem man begleitet wird auf dem Weg des Erwachsenwerdens“.

Der Präsident der Fraternität von CL, Don Julián Carrón

Eine solche Kultur der Wertschätzung wünscht sich der Münchner Manager Georg Haubs auch für die Arbeitswelt. Diese sei zumindest in Deutschland eher durch die „Angst vor dem Scheitern“ geprägt. Er sprach mit Nils-Peter Daetz, Leiter der Personalabteilung Europa bei Nokia, bei dem Podium zum Thema „Arbeit – Person – Erziehung“. Dabei stand ebenfalls die persönliche Erfahrung im Zentrum. Man war sich einig, dass Unternehmen schon aus wirtschaftlichen Gründen ein vitales Interesse daran haben müssten, Angestellte entsprechend ihrer persönlichen Fähigkeiten zu fördern. Zugleich sei die Arbeit ein Ort, an dem man sich selber besser kennenlerne. Arbeit könne entfremden – oder es einem ermöglichen, seine Persönlichkeit zur Entfaltung zu bringen, unterstrich der Vorsitzende des italienischen Unternehmerverbandes Compagnia delle Opere, Bernhard Scholz. Entscheidend sei dabei, welche Haltung man selbst ihr gegenüber einnehme.

Was aber macht Erziehung überhaupt erst möglich? Worauf baut sie auf? Julián Carrón ging bei seinem Vortrag am Sonntagnachmittag von der Aussage einer jungen Berufstätigen aus, die zum ersten Mal als freiwillige Helferin am Rhein-Meeting teilnahm: Weshalb sie sich engagiere, könne sie nicht genau erklären, aber auf jeden Fall habe sie hier einen Ort gefunden, der ihr nach und nach die Welt erschließe. Der Weg sei immer derselbe, meinte Carrón, ob heute, vor 60 oder vor 2000 Jahren: die Faszination für ein Leben, das die Sehnsucht zu erfüllen verheißt, die uns alle prägt. Gerade deshalb brauche das Christentum, und zumal das Charisma von Comunione e Liberazione, die multikulturellen Gesellschaften einer globalisierten Welt nicht zu fürchten. Ganz im Gegenteil: „Beide passen gar nicht schlecht zusammen“, sagte Carrón. Denn alle Menschen, gleich welcher Herkunft, suchten nach einer Antwort auf die Grundfragen ihres Lebens, alle wünschten sich eine Gewissheit, die ihr Leben trägt, und sehnten sich nach Erfüllung. Das Christentum werde überzeugen, da es Antwort auf diese Sehnsüchte geben könne. Allerdings gebe es dafür kein Patentrezept. Es hänge von der Freiheit und dem persönlichen Engagement jedes einzelnen ab.

Viele, die das Kölner Kulturfestivals zum ersten Mal besuchten, waren fasziniert von dieser Art, sich mit seinem eigenen Leben und seinen Grundfragen auseinanderzusetzen – eben ohne Patentrezepte oder ideologische Scheuklappen, sondern indem man seine Erfahrung ins Spiel bringt und sich existenziell auf dieses „Wagnis“ einlässt. Daher werden viele von ihnen wiederkommen, wenn es beim nächsten Rhein-Meeting vom 26. bis 28. Februar 2016 heißen wird: „frei! wozu?“