Julián Carrón in Florenz

Was besiegt die Einsamkeit?

Einsamkeit ist eines der großen Probleme unserer Zeit. Auch und gerade für alte Menschen. Bei einer Konferenz in Florenz zu diesem Thema hielt auch Julián Carrón einen Vortrag.
Marco Lapi

„Der Feind Einsamkeit“. So lautete der Titel einer Konferenz in Florenz im November 2019 zum Thema Einsamkeit im Alter. Veranstaltet wurde sie anlässlich des „Nationalen Tages gegen die Einsamkeit“, unter anderem von der italienischen Gesellschaft für Psychogeriatrie und dem internationalen Netzwerk Long Term Care Alliance. Einer der Organisatoren, Ilan Gonen, hatte die Idee, auch Don Julián Carrón, den Präsidenten der Fraternität von Comunione e Liberazione, einzuladen und ihn „Glaube und Einsamkeit“ sprechen zu lassen.

Carrón richtete in seinem Vortrag den Blick auf diese letzte „Grunderfahrung des Menschen“ zunächst, indem er Beispiele aus der Literatur anführte, etwa Giacomo Leopardis Nachtgesang eines Wanderhirten Asiens. Oder Emily Dickinson, die verschiedene Arten der Einsamkeit beschreibt: „Es gibt die Einsamkeit des Raums, die Einsamkeit der See, die Einsamkeit des Todes, jedoch Gesellschaft bieten sie verglichen mit dem tiefen Ort des eisigen Allein der Seele, die sich selbst empfängt, der endlichen Unendlichkeit.“

„Nichts ist vergleichbar“, so erklärte Carrón, „mit der Einsamkeit der Seele angesichts ihrer selbst.“ Don Giussani sagt: „Das Empfinden der Hilflosigkeit begleitet jede ernsthafte Erfahrung des Menschseins.“ Und „Je mehr der Mensch sich der unermesslichen Dimension seiner Hilflosigkeit bewusst wird, desto mehr wird ihm bewusst, dass die Einsamkeit weder durch uns selbst noch durch andere eine Antwort finden kann.“

Ilan Gonen, Julián Carrón und Luigi Paccosi

Andererseits gibt es in der menschlichen Erfahrung auch ein positives Empfinden der Einsamkeit, das diese geradezu als Segen erscheinen lässt. Gaber singt in einem seiner Lieder: „Einsamkeit ist kein Wahnsinn, sie ist unerlässlich, damit man sich in Gesellschaft wohl fühlen kann.“ Völlig anders ist dagegen die Angst vor dem Alleinsein, die zum Beispiel die beiden Waisenkinder in einem Gedicht von Pascoli beschleicht.

Ist die Einsamkeit also Fluch oder Segen, fragte Carrón in seinem Vortrag. Und er zitierte Etty Hillesum, die junge Jüdin, die in Auschwitz ums Leben kam: „Ich kenne zwei Arten der Einsamkeit. Die eine macht mich todunglücklich und gibt mir das Gefühl von Verlorensein und Umherirren, die andere macht mich stark und glücklich.“ Der Unterschied liegt also nicht darin, ob man allein ist oder nicht, sondern darin, ob das Leben einen Sinn hat.

Es ist eine Frage der inneren Einstellung, wie der Psychiater Eugenio Borgna feststellt, den Carrón zitierte: „Einsamkeit und Isolation sind zwei vollkommen verschiedene Lebensweisen, auch wenn sie oft gleichgesetzt werden. Allein zu sein bedeutet nicht, dass man sich einsam fühlt, sondern dass man sich für eine Zeit von der Welt und den Menschen, von seinen täglichen Beschäftigungen zurückzieht, um wieder in sein Inneres oder seine Phantasie einzutreten, ohne dabei die Sehnsucht nach Beziehungen zu anderen, zu den geliebten Menschen, zu den Aufgaben, die das Leben einem anvertraut hat, zu verlieren. Einsam und isoliert sind wir dagegen, wenn wir uns in uns selbst verschließen, sei es, weil andere uns ablehnen, oder, was noch öfter vorkommt, aufgrund unserer eigenen Gleichgültigkeit und eines düsteren Egoismus, der die Folge eines gefühlslosen und verhärteten Herzens ist.“

Zur Einsamkeit ist man also nicht verdammt. Es gibt genug Menschen, die bezeugen, dass man jede Situation positiv leben kann. Carrón zitierte dazu die Journalistin Marina Corradi, die von ihrem „Riss“ spricht, der irgendwann zu einer schweren Depression wird. „Ich las Mounier. ‚Gott geht durch die Wunden‘, schreibt er. Ich dachte darüber nach, was mein Riss sei: ein Durchschlupf in einer sonst undurchlässigen Wand, eine notwendige Ruptur? [...] Wozu diese Wunde? Wenn sie nicht wäre, fehlte mir nichts. Ich bin körperlich gesund, ich bin nicht arm, ich hatte Glück im Leben. Er ist eine Erlösung, dieser Spalt in der Mauer, dieser Riss. Durch ihn kann ein Strom der Gnade unkontrolliert in die trockene und harte Erde dringen und sie befruchten.“

Das sei der Kampf, den wir in jeder Situation kämpfen müssten, erklärte Carrón. Aber welchen Grund haben wir, ihn aufzunehmen? „Nur die Liebe zu uns selbst“, meinte er. Denn sogar der größte Schmerz könne dazu führen, „dass wir völlig neue Horizonte entdecken“. Doch um diese Möglichkeit zuzulassen, müssten wir die Umstände mit der größtmöglichen Offenheit betrachten, zu der ein Mensch fähig ist. Und das geht nur, solange wir nicht in jene Sinnleere fallen, die der Psychoanalytiker Umberto Galimberti beschreibt. Das sei auch nicht an ein bestimmtes Alter gebunden, sagte Carrón: „Man kann auch schon mit zwanzig alt sein.“

Um der Einsamkeit etwas Positives abgewinnen zu können, muss man sie einmal durchlebt haben. Dann kann sie zu einem Ort werden, „an dem man die ursprüngliche Begleitung entdeckt“, sofern man „das Bedürfnis nach Sinn, das der Mensch immer im Herzen trägt“, nicht verdrängt hat. Dazu müssen wir von der Evidenz ausgehen, dass wir uns nicht selber schaffen. Auch das bezeugt Etty Hillesum: „In mir gibt es einen ganz tiefen Brunnen. Und darin ist Gott. Manchmal ist er für mich erreichbar. Aber oft liegen Steine und Geröll auf dem Brunnen und dann ist Gott begraben. Dann muss er wieder ausgegraben werden.“

„Das Leben kommt somit vor allem im Bewusstsein der Beziehung zu dem, der es geschaffen hat, zum Ausdruck“, wie Don Giussani sagt. „Nur so entgehen wir der Einsamkeit: indem wir entdecken, dass das Sein Liebe ist, die sich unaufhörlich verschenkt. Unser Leben verwirklicht sich wesentlich im Dialog mit der großen Gegenwart, die es begründet und immerfort begleitet. Diese Begleitung ist in unserem Ich, es gibt nichts, was wir allein tun. Jede menschliche Freundschaft ist ein Abglanz dieser ursprünglichen Struktur des Seins“. Jeder Versuch, eine Antwort auf die Einsamkeit zu finden, meinte Carrón, sei also auch ein Widerhall dieser ursprünglichen Begleitung durch den Anderen, der uns das Leben schenkt.

Es ist wie in der Beziehung eines Kindes zu seiner Mutter. An ihrer Hand hat es keine Angst, einen dunklen Raum zu betreten. Ein weiterer Hinweis auf diese ursprüngliche Begleitung ist unser unauslöschliches Bedürfnis, geliebt zu werden, zu dem sich sogar ein erklärter Nicht-Glaubender wie der französische Schriftsteller Michel Houellebecq in einem öffentlichen Brief an Bernard-Henri Lévy bekannte. Diese Sehnsucht bleibt, und zu ihrer Befriedigung kann man, wie Montale schreibt, „nur etwas Unverhofftes erhoffen“. Das ist allerdings nicht unvernünftig, denn es ist geschehen: Die Einsamkeit wurde besiegt durch die Gegenwart des menschgewordenen Gottes. Das Wort ist Fleisch geworden, wodurch alles, auch der vermeintlich einsame Kosmos, „reich und schön“ wird.

Gott ist zu einer Gegenwart geworden, „die sich dem Menschen als echte Begleitung anbietet“, sagte Carrón. Das ist „die größte Herausforderung“ an unsere Vernunft und Freiheit. Gott lässt sich berühren von dem Nichts, das wir sind, von der Einsamkeit, die wir aus eigener Kraft nicht besiegen können. Er war so gerührt, dass er seinen Sohn in die Welt sandte. Der ist aber, wie Claudel es formuliert, „nicht gekommen, um das Leid zu eliminieren, sondern um mit uns zu leiden“, um uns zu begleiten, egal in welcher Situation wir uns befinden. In diesem Sinne, so schloss Don Julián, biete der Glaube eine Antwort auf die Einsamkeit eines jeden von uns, auch und gerade für ältere Menschen. „Für einen Menschen, der sich bewusst ist, wer er ist, kann die Einsamkeit zum Freund werden. Denn dann sind seine Tage erfüllt von dem ununterbrochenen Dialog mit dem Geheimnis, das alles schafft.“