MEETING IN RIMINI 2014

Eindrücke von einer Woche der Begegnungen (offizieller und inoffizieller), die in die ganze Wirklichkeit führen. Politik, Geschichte, Bildung, große Literatur, das All.
Roberto Fontolan

Sie lassen uns teilhaben an dem „erlösten Blick“, den der Kustos des Heiligen Landes und viele andere uns bezeugt haben. Dieser Blick schenkt Bestand, im Leben und im Tod. Und er entdeckt die Hoffnung hinter all dem Leid.

Auf dem Parkplatz bei den Polizeiautos begrüßen sich zwei Männer, die auf ihren Wanderungen zwischen den Messehallen zufällig dort gelandet sind. Beide sind alt. Einer ist anhand seiner Kleidung als Priester zu erkennen, die Jacke verdeckt ein kleines Kreuz. Der andere trägt ein schwarzes Gewand mit einer bronzefarbenen Stola, Flipflops aus Holz und weiße Strümpfe. Hinter ihm seine Frau, die immer dabei ist und immer lächelt. Die beiden sprechen nicht dieselbe Sprache, sondern verständigen sich mühsam in gebrochenem Englisch. Bisher kannten sie sich nicht, aber sie hatten das gleiche Motiv, zum Meeting zu kommen. Daher wissen sie etwas über einander, was sie Sympathie füreinander empfinden lässt und eine Art stilles Einverständnis herstellt. Man könnte es ungefähr so formulieren: Wenn du auch hier bist, dann bedeutet das, dass wir beinahe Freunde sind. „Beten Sie für mich“, sagt der Bischof mit dem römischen Kragen. „Im Irak haben wir Ihre Gebete bitter nötig.“

Diese Gebete kenne ich. Ich habe sie 1987 gehört, und dann 25 Jahre später, 2012. In einer dunklen Kapelle, spärlich erleuchtet von knisternden heiligen Feuern, intoniert der ehrwürdige Shodo Habukawa Gebetsformeln, die die Umstehenden an die Schwelle des Geheimnisses führen, vielleicht sogar ein bisschen darüber hinaus. Zwischen den Lauten einer so fremden und mir so unverständlichen Sprache, dass sie mir wie eine Melodie der Seele vorkamen, tauchten plötzlich bekannte Namen auf, Namen von Freunden wie Don Giussani, und sogar die Namen meiner Kinder. Aus einem der vielen buddhistischen Klöster auf dem Monte Koya steigen diese Namen zum Himmel auf, wie Wölkchen, dem Ewigen anvertraut. Ab heute wird dort auch der Name dieses Bischofs zu hören sein, den der Mönch bei den Polizeiautos getroffen hat, unter der Sonne Riminis, und durch ihn die vielen Namen der leidenden Menschen im Irak.

Ohne einen „erlösten Blick“ kann man diese in Flammen stehende Welt nicht „lesen“.

Wie sehr haben wir mitgelitten beim Meeting mit den vielen entstellten, verwundeten, vernichteten Menschen in jenen Peripherien, die – wie der italienische Staatspräsident Giorgio Napolitano in seinem Grußwort sagte – „nicht weit weg sind, sondern Teil unserer Welt und unseres Lebensalltags und uns ganz direkt angehen“. Wir haben für sie gebetet und liebevoll auf ihre gebrochenen Lebensgeschichten geschaut und den Zeugen zugehört, die sie vertraten, allen, ohne Unterschied. Uns alle hat der Ausdruck berührt, den Pater Pierbattista Pizzaballa, der Kustos des Heiligen Landes, bei der Eröffnungsveranstaltung gebraucht hat: „ein erlöster Blick“. Ohne einen solchen kann man diese in Flammen stehende Welt nicht „lesen“, kann man den Tod Unschuldiger nicht „ansehen“. Und noch weniger das Gute bemerken. Wie die Tatsache, dass die Einwohner von Aleppo sich zusammentun, um sicherzustellen, dass alle Wasser bekommen, Christen wie Muslime. Und die 300 Freiwilligen in Homs, die den Jesuiten, oder besser gesagt dem letzten Jesuiten, Pater Hilal, helfen, 8.000 Familien beizustehen.

Pater Pizzaballa, Kustos des Heiligen Landes

Dieser „erlöste“ Blick ist nichts für schwache Gemüter: Er sieht den Schmerz und das Blut, er hat die Halsabschneider (im wahrsten Sinne des Wortes) des „Islamischen Staat“ vor Augen, er befasst sich mit Geopolitik und den Feinheiten (oder Spitzfindigkeiten) der Diplomatie. Aber es ist der einzige Blick, der dem Abgrund standhält. Der einzige, der bestehen kann, im Leben und im Tod. Die einzige Erfahrung, die wirklich mit der Wirklichkeit des anderen in Dialog treten kann.

Die Kleinen der Welt. So ein erlöster Blick schweift über das von Flüchtlingsbooten durchzogene Mittelmeer. Und trifft auf Menschen, die nicht Politik machen oder anklagen wollen, sondern der Menschlichkeit eine Chance geben (der schließlich auch die Politik und das Recht folgen werden). Davon berichtete Carla Trommino aus Sizilien, die eine Vereinigung zur Aufnahme von minderjährigen Flüchtlingen gegründet hat. Ihr Ziel ist es, einen „Vormund aus Liebe“ für jeden einzelnen der unbegleiteten Jugendlichen zu finden. Und Admiral Giuseppe De Giorgi bestätigte, dass die Operation Mare Nostrum, mit all ihrer Problematik und ihren Versäumnissen, gar nicht möglich ist, wenn man nicht auf die Menschen und ihre Bedürfnisse schaut. Warum sonst sollte man sich auch um die Not der Migranten kümmern?



„Wenn es uns nicht gäbe, dächten sie, es gäbe keine Hoffnung mehr auf der Welt.“ Als die Frau diese Worte ausspricht, ist es mucksmäuschenstill im Saal. Die Geschichte, die der Dokumentarfilm Las Patronas erzählt, spielt allerdings nicht im Nahen Osten oder am Mittelmeer, sondern in Mexiko, an der Grenze zu den USA. Jedes Jahr versuchen ungefähr 400.000 illegale Einwanderer auf jede erdenkliche Weise, diese Grenze zu überqueren. Einige probieren es mit Güterzügen, indem sie tagelang ausgetreckt auf den Dächern der Wagons mitfahren. Die sind mit „sie“ gemeint. „Wir“, das sind drei Schwestern einer Bauernfamilie, die eine außergewöhnliche Hilfsaktion initiiert haben. Sie packen Essen und Wasser in Portionsbeutel und werfen sie den desperados auf den Zügen zu. Und beten zu Gott, dass alles gut geht. Es sind die Kleinen, die die Welt retten, wie auch Pater Pizzaballa bestätigte.

Die von SWAP. Beim Meeting gibt es immer viel zu hören, aber in diesem Jahr gab es auch viel zu sehen. Die Filme in der Ausstellung über Charles Péguy, in denen Stücke des Autors szenisch dargestellt wurden, waren eine beeindruckende Neuerung. Bei der Ausstellung, die John Waters kuratiert hatte, über die Projekte von AVSI in Kenia, Ecuador und Brasilien, gab es ebenfalls viele Videos zu sehen. Und dann die wunderschönen Fotos in der Ausstellung  über die christlichen Minderheiten im Irak, Zypern und Ägypten: ein Reigen von Bildern, die die vielen Zeugnisse, die wir in dieser Woche gehört haben, geradezu handgreiflich machten.



Spät am Abend bringt mich einer der freiwilligen Chauffeure ins Hotel. Er ist mit seiner Frau hier, die ehrenamtlich in einem der Restaurants auf dem Messegelände arbeitet. Am Samstag werden sie nach Hause fahren und am Montag wieder arbeiten müssen. Die Woche des Meetings sei viel zu kurz für ihn, sagt er. „Eh man sich versieht, ist sie vorbei.“ Man hat längst nicht alle Ausstellungen gesehen und alle Leute getroffen, die man treffen wollte. Ein Problem, das die meisten Menschen beim Meeting kennen.

Darunter sind auch, in Halle C1, Mina und die jungen Leute der Gruppe SWAP, Studenten der Katholischen Universität in Mailand mit Migrationshintergrund. Sie berichten hier von ihren Erfahrungen, mit einer Fotoausstellung und Texten zur Revolution auf dem Tahrir-Platz in Kairo. Vor zwei Jahren haben ihre Landsleute, Christen und Muslime gemeinsam, einen kurzen „Frühling“ erlebt, Ereignisse und Träume, die den Samen von Veränderungen in sich tragen, die noch nicht abgeschlossen sind. Was hat er für diese jungen Araber in Italien bewegt? Das erklärten sie in Rimini den rund 14.000 (!) Besuchern ihrer Ausstellung: das Bewusstsein, dass jeder von uns ein „Zentrum an der Peripherie“ ist, das durch seinen Beitrag die Welt verändern kann.

Das ist etwas Geheimnisvolles, kaum wahrnehmbar und doch unvermeidlich. Bischof Silvano Maria Tomasi, Nuntius in Genf, der ziemlich beschäftigt war mit der Ausstellung über „sein“ christliches Äthiopien, verwies auf die Berichte des Evangeliums, deren Protagonisten ein Zimmermann, ein ganz junges Mädchen, ein Greis und ein paar arme Fischer waren. Kann man sich unbedeutendere „Randgebiete“ vorstellen? Und haben nicht genau diese Randgebiete die Geschichte verändert? (Passende Lektüre dazu wäre das entsprechende Kapitel in Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur des großen deutschen Philologen Erich Auerbach.)

Am Ende der Woche hat mein Chauffeur auch die Akrobaten aus Kenia und das Armenische Philharmonie-Orchester verpasst. Ich nicht. Ich wollte mir diese ganz eigenen Ausdrucksformen der Kunst nicht entgehen lassen: die jugendlichen Trommler und Tänzer von den Straßen Nairobis, die mit ihrer Vitalität das Publikum ansteckten. Oder die erhabenen Klänge, in die das grandiose Orchester aus Jerewan das Publikum im großen Auditorium mit seinen Interpretationen von Chatschaturjan und Rimsky-Korsakow hüllte. Viele der Freiwilligen eilten nach Ende ihres Dienstes noch zu der Veranstaltung über Guareschi, den Autor von Don Camillo und Peppone, und den italienischen Sänger und Liedermacher Enzo Jannacci. Im Saal blieben kaum Plätze frei und draußen drängten sich die Zuschauer, um über die Bildschirme zu verfolgen, wie die beiden Protagonisten die „kleine Welt“, die „belanglosen Dinge“ und die dramatische Schönheit des Lebens besangen.



Zwei besondere Aspekte. Diesem weltumspannenden Meeting ist es gelungen, Komplexität und Leichtigkeit, Mystik und Logik, Offenheit und Identität zu verbinden. Und es hat ganz unterschiedliche Bewunderer gefunden. Joseph Weiler zum Beispiel, der um das Kulturfestival nicht zu verpassen, innerhalb von 48 Stunden von Singapur hin und zurück geflogen ist. Oder der Unternehmer Roberto Snaidero, der im Meeting „einen Ort unglaublicher Freiheit und intelligenten Dialogs“ sah. Oder Kardinal Georg Pell, der in Rimini „nicht nur suchende Menschen“ erlebt hat, sondern solche die „den tiefen Wunsch haben, der Welt das Evangelium zu verkünden“. Zu Beginn des Meetings wies Papst Franziskus die Verantwortlichen und Teilnehmer auf zwei besondere Aspekte hin: „Die Wirklichkeit zu lieben“ und „den Blick fest auf das Wesentliche zu richten“. Zwischen diesen beiden Ufern verlief die stürmische Reise im August 2014.

Da war einerseits „der erlöste Blick“, zu dem Pater Pizzaballa aufgefordert hat, um die Welt zu verstehen und vor allem wirklich zu leben. Und andererseits die Reise durch die Zeit unter der Leitung von Giorgio und Marilyn Buccellati, einigen ihrer Archäologen-Kollegen und dem Theologen Ignacio Carbajosa, die zu den Ursprüngen der mesopotamischen und hebräischen Gesellschaft führte. Gleichzeitig gab es Reisen ins Universum in der Ausstellung „Explorers“. Dort konnte man sehen, dass der Mensch, je weiter er in die Randgebiete vordringt und je winziger er wirkt, seine wahre Größe um so deutlicher erkennen lässt.

Weiter konnte man die Randgebiete aus der Perspektive des ukrainischen Philosophen Filonenko betrachten: „Die Peripherien sind nicht geographisch definiert, sondern der Ort einer Begegnung, durch die der Mensch sich selber entdeckt und lebendiger wird.“ Aber man hörte auch bewegende Berichte und Zeugnisse über den Umgang mit der Krankheit, einer „sehr nahen Peripherie“.

Auch das Thema der Caritas wurde beleuchtet, nicht zuletzt als Schlüssel für wahre Gerechtigkeit (in dem Podiumsgespräch mit Luciano Violante und Javier Prades). Den Dialog darüber sollten wir wieder aufgreifen und vertiefen, ebenso wie die Frage der „neuen Rechte“, die nicht „Feinde“ sind, „die es zu bekämpfen gilt“, wie der Jurist Tomaso Emilio Epidendio es formulierte, sondern Herausforderungen, die wir annehmen sollten. Er meint, wir beobachteten zur Zeit einen „Verfall des Rechts, und zwar zu etwas, das eine bloß diesseitige Hoffnung verspricht und auf das ‚Hier und jetzt‘ verkürzt wird, wo die Rechte sich aus Voraussetzungen speisen, die sie selber nicht einhalten können“. An anderer Stelle ging es um die Bedeutung der Liebe, und zwar der menschlichen, irdischen, alltäglichen Liebe, über die zum Beispiel der russische Bischof Panteleimon sprach. Dann war da der erstaunliche Besuch des Prälaten des Opus Dei, Bischof Javier Echevarría, der über den Glauben berichtete, wie er in der Nachfolge des Charismas von José Maria Escrivá aufgeblüht ist. Und es gab packende Schilderungen aus dem Bereich Erziehung, beispielsweise über das Lernzentrum „Portofranco“, oder von José Medina aus den USA.

Prof. Wael Farouq,Cairo

Aufgeschlossenes Denken. Wenn man das alles gesehen und gehört hat, versteht man ein bisschen besser die Beobachtung des Soziologen Mauro Magatti über Don Giussani, aus dessen Charisma das Meeting hervorgegangen ist: „Er wusste die Worte seiner Zeit aufzunehmen und konnte zeigen, wo sie verkürzt und ihr Sinn entstellt wurde“; dadurch öffnete er sie für eine neue und faszinierende Kreativität. Und es wird einem die enge Verbindung mit der heutigen Kirche bewusst, die Guzmán Carriquiry und Kardinal Gualtiero Bassetti aufzeigten, ausgehend von Evangelii Gaudium: „Wie der Vater in dem Gleichnis vom verlorenen Sohn sollen wir unsere Mitmenschen mit offenen Armen empfangen, und nicht auf die Liste ihrer Mängel verweisen.“

Bei einem der am besten besuchten Vorträge erzählte Pater Spadaro von der „menschlichen und geistlichen Erfahrung“ seiner Begegnung mit Papst Franziskus: „Er sagt, ein Jesuit müsse ein Mensch von aufgeschlossenem Denken sein; ich dachte immer, wir sollten klare und scharf umrissene Gedanken haben. Und ausgerechnet ein Jesuiten-Papst sagt mir, unser Denken müsse offen sein auf den Horizont hin und Christus in seinem Zentrum haben.“ Das könnte auch eine gute Zusammenfassung dieses welt-umspannenden Meetings sein.