Rhein-Meeting 2019: „Ein denkendes Herz“
Was Etty Hillesum im Vernichtungslager Hoffnung gab, gilt auch in Zeiten von Künstlicher Intelligenz und Internet: Die Sehnsucht des Herzens ist unstillbar, bis sie auf eine unverhoffte Antwort trifft.Auf dem Rhein-Meeting in Köln bezeugten dies der ehemalige Vizekanzler Franz Müntefering genauso wie die Bestsellerautorin Susanna Tamaro.
Die Reaktion der Kritiker auf ihr erstes Buch Geh wohin dein Herz dich trägt war für die italienische Bestsellerautorin Susanna Tamaro offenbar mehr als ernüchternd. „Es wurde ins Lächerliche gezogen“, erinnerte sie sich beim Rhein-Meeting in Köln. Man habe ihr Gefühlsduselei vorgeworfen, das Werk als seichte Unterhaltungsliteratur abgetan. „Ich habe damals verstanden, dass das Herz für die Gesellschaft ein großes Tabu ist“, sagt Tamaro gut 25 Jahre nach dem Erscheinen ihres Welterfolgs. Und daran habe sich bis heute nichts geändert. „Wir leben in einer Zeit, die Sentimentalitäten verherrlicht, das Gegenteil wirklicher Gefühle [...], in einer Gesellschaft, die uns zwingt, rein rationaler Verstand zu sein – oder Sex-Objekte“. Schlimmer noch: „Das Herz wird von der modernen Kultur nicht mehr beachtet“, und das, obgleich es über Jahrtausende „im Mittelpunkt der großen Religionen und Kulturen stand“, so ihr Fazit.
Umso paradoxer muss der Titel des diesjährigen Rhein-Meetings erscheinen, das vom 22. bis 24. März in Köln stattfand: „Ein denkendes Herz“. Er ist den Tagebüchern von Etty Hillesum entlehnt, einer jungen jüdischen Niederländerin, die am 3. November 1943 im Konzentrationslager Ausschwitz ermordet wurde. Ihre posthum veröffentlichten Tagebücher aus den Jahren 1941–1943 machten sie weltweit bekannt. Im Foyer des Maternushauses unweit des Kölner Doms war ihr auch eine Ausstellung gewidmet. Mehr als 600 Besucher fanden sich dort am vergangenen Wochenende ein, um sich mit dem Herzen und dem, was es zu einem „denkenden“ macht, zu beschäftigen. Das geschah vor allem im Dialog und im gegenseitigen Mitteilen von Lebensfragen und Lebenserfahrungen.
Zum Auftakt traten drei Studenten mit dem ehemaligen Bundesminister und Vize-Kanzler Franz Müntefering ins Gespräch. Der Sauerländer und gestandene Sozialdemokrat konnte allerdings mit dem Begriff „denkendes Herz“ wenig anfangen. Er bevorzuge eher den „praktischen“ Ausdruck der Nächstenliebe, wie er sie bei seiner Mutter im katholischen Elternhaus erlebt habe und was ihn bis heute präge. Ein Schlüsselerlebnis: Die Mutter gab den bettelnden Kriegsversehrten, die in der Nachkriegszeit hungrig von Haustür zu Haustür zogen, kein Geld, sondern lud sie zu einer Suppe oder einem Butterbrot ein. Zum Verdruss des jungen Franz ließ sie die oft streng riechenden und verwahrlosten Menschen am häuslichen Esstisch Platz nehmen. Denn, so erklärte sie: „Man lässt niemanden im Stehen essen.“ Für den SPD-Spitzenpolitiker fasst sich darin das zusammen, was er später gesellschaftspolitisch als „Solidarität“ umzusetzen versuchte.
Die IT-Expertin Yvonne Hofstetter und der Mainzer Historiker Andreas Rödder verstanden das „denkende Herz“ bei ihrem Podiumsgespräch als Synonym eines jüdisch-christlich geprägten Menschenbildes. Hofstetter, selbst erfolgreiche Software-Unternehmerin, sieht dieses durch die Digitalisierung gefährdet und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Einmal sei der Mensch in seiner äußeren Freiheit gefährdet durch eine IT, die den Menschen in allen Lebensbereichen erfasst und überwacht: von der Gesundheit über die Arbeit bis zur politischen Präferenz. In China gebe es inzwischen sogar ein Sozial-Punktesystem, das Wohlverhalten gegenüber der totalitären Staatsideologie prämiert oder bestraft. Das US-amerikanische Modell des Wirtschaftsliberalismus andererseits unterwerfe alle Lebensbereiche dem Diktat der Ökonomie: der Mensch als ein Datenbündel, das es auszubeuten gilt. Hofstetter konstatierte demgegenüber eine „überraschende Gleichgültigkeit“ „konsumorientierter Hedonisten, die für nichts mehr ihr Leben riskieren“. Die Digitalisierung sei nicht neutral, erklärte sie. Sie reduziere den Menschen auf ein quantifizierbares, durch Zahlen und Statistiken erfassbares Wesen. Damit würde er zu einem biologistischen Algorithmus, zum Datenlieferanten oder zur Handelsware.
Rödder stimmte den Bedenken zu, wandte sich aber gegen eine fatalistische Weltsicht. Diese stellt für ihn eher die Kehrseite euphorischer Zukunftsverheißungen der Silikon Valley-Ideologie dar. Er plädierte für ein beherztes Handeln. Politik und Gesellschaft müssten endlich ihren Gestaltungsanspruch durchsetzen. Schließlich habe die Sozialpolitik im 20. Jahrhundert auch den zunächst als naturwüchsig empfundenen Manchester-Kapitalismus gebändigt und so für einen weit verteilten Wohlstand gesorgt. Die Auswüchse des IT-Kapitalismus müssten im Sinne eines „digitalen Humanismus“ rechtlich eingehegt werden, „damit auch in der Digitalisierung 5.0 oder 6.0 der Mensch 1.0 die Vorherrschaft behält“. Dringlich sei allerdings eine Stärkung der Urteilsfähigkeit gerade bei Jugendlichen durch eine humanistische Bildung im humboldtschen Sinne. Gemeint ist damit eine ganzheitliche Erziehung, die auf eine Entfaltung des Menschlichen abzielt. „Eine gute Gedicht-Interpretation kann mehr bilden als das Erlernen einer Computersprache“, brachte er es auf den Punkt. Bedenklich fand er allerdings, dass das Internet „die ganze Art des Denkens“ beeinflusse. Statt des linearen Denkens, das von Gründen ausgeht und Ziele anstrebe, befördere es ein „flächiges“ Denken in Netzwerken ohne wirkliche Bewertung.
Ein Gedanke, der in gewandelter Form auch im Vortrag von Pater Mauro-Giuseppe Lepori auftauchte. Der Generalabt der Zisterzienser berichtete von einem Gespräch, das er mit einem jungen Mädchen über den Einfluss der digitalen Medien hatte. „Wir waren uns einig in einer Feststellung: Die Informatik bietet unzweifelhaft ungeahnte Möglichkeiten, das Wissen zu bereichern und zu Informationen zu kommen. Das eigentliche Problem liegt jedoch darin, dass diese Möglichkeit, sofort auf die vielfältigsten Inhalte der Wissensvermittlung zuzugreifen, die heutigen Jugendlichen immer unfähiger macht zu denken, zu überlegen, zu meditieren.“ Die Folge: „Die Frage des Herzens hat gar keine Zeit aufzukommen“. Es ist immer schon gleich eine Antwort da, „sind schon tausend Antworten da, die sich aufdrängen und das Denken beschneiden und abtöten.“ Anders gesagt: Eine persönliche Erfahrung, eine existenzielle Überprüfung findet nicht mehr statt. Alles bleibt abstrakt, irgendwie fremd und beliebig.
Im Gegensatz zu Hofstetter führte Lepori aber die Entfremdung des Herzens nicht allein auf Informationstechnologie und Internet zurück. „Das Problem liegt tiefer“, erklärte er. Es ist und bleibt die Freiheit des Menschen. „Mehrmals warnt uns Jesus: ‚Aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis und Lästerung. Das ist es, was den Menschen unrein macht‘ (Mt 15,19-20a). Aber Jesus weiß, dass es nicht genügt, „Genug!“ zu sagen zu den Gedanken, damit sie verschwinden. Vielmehr muss man die falschen Gedanken mit einem Gegenmittel, mit einer Realität konfrontieren, die ihnen widerspricht und sie entwaffnet.“ Das ist „die Realität des Ereignisses Christi“. Sie entlarvt die verborgenen Gedanken des Herzens. Wir müssen also „an Christus denken und wie Christus denken“.
Wie aber entwickelt sich ein solches Denken, bei dem es sich „nicht bloß um eine Sache des Verstandes, um eine Wissenschaft, um eine Philosophie handeln kann, auch nicht um eine Theologie“? Hier führte Lepori einen Tagebucheintrag von Etty Hillesum vom 3. Oktober 1942 an. Etty ist krank, sie leidet unter Schlaflosigkeit und erträgt nur mit Mühe ihre Schwäche. Da kommt ihr in den Sinn, was ihr im Lager Westerbork einmal bewusst geworden war: Wenn ich nachts auf meiner Pritsche lag, mitten zwischen leise schnarchenden, laut träumenden, still vor sich hin weinenden und sich wälzenden Frauen und Mädchen, die tagsüber oft sagten: ‚Wir wollen nicht denken‘, ‚wir wollen nichts fühlen, sonst werden wir verrückt‘, dann war ich oft unendlich bewegt, ich lag wach und ließ die Ereignisse, die viel zu vielen Eindrücke eines viel zu langen Tages im Geist an mir vorbeiziehen und dachte: Lass mich dann das denkende Herz dieser Baracke sein. Ich will es wieder sein. Ich möchte das denkende Herz eines ganzen Konzentrationslagers sein. (Tagebuch, 3. Oktober 1942). Etty Hillesum will nicht ins Vergessen flüchten. Sie will auch angesichts der tragischen und absurden Realität ihrer Zeit nicht in Gefühllosigkeit abgleiten, betonte Lepori. Sie stellt sich stattdessen ganz bewusst der „Konfrontation mit dieser Realität.“ Sie ahnt, „dass ein denkendes Herz inmitten einer entmenschlichten und entmenschlichenden Wirklichkeit die geheimnisvolle, aber reelle Macht hat, das Menschliche zu retten“.
Diese Ahnung vermittelt auch die Lesung aus den Tagebüchern von Etty Hillesum, die die Regisseurin und Schauspielerin Ingeborg Waldherr dem Publikum des Rhein-Meetings präsentiert. Begleitet wird sie dabei mit sehr eindringlichen Klängen von Dimitris Pekas auf seinem Cello.
Die Beiträge von Andreas Knapp und Susanna Tamaro verdeutlichten auf je unterschiedliche Weise, dass es bei dem „Denken des Herzens“ gerade nicht um Introspektion oder den Rückzug auf das eigene Ich geht. Ganz im Gegenteil, dieses Herz muss wach sein, auf die Wirklichkeit hören und Gott um diese Fähigkeiten bitten. Gianluca Carlin, der Vorsitzende des Rhein-Meeting e. V., zitierte dazu paradigmatisch für den Menschen schlechthin die Bitte von König Salomo aus dem Alten Testament: Als Gott ihm im Traum die Erfüllung einer Bitte verspricht, wünscht er sich eine „hörendes Herz“ und Gott schenkt ihm ein „weises und verständiges Herz“.
Was ihm selber durch seine Begegnung mit Flüchtlingen geschenkt wurde, berichtete Andreas Knapp. Er ist Mitglied der „Kleinen Brüder vom Evangelium“, die sich auf Charles de Foucauld berufen, und lebt seit 2005 in einer Plattenbausiedlung in Leipzig. Seinen Lebensunterhalt verdient er in einer Fabrik, „nebenbei“ ist er als Gefängnisseelsorger tätig. So wollen er und seine Mitbrüder das Leben der Armen teilen. Ein unvorhergesehener Wendepunkt kam für ihn, als 2015 eine christliche Flüchtlingsfamilie aus Mossul in die leerstehende Nachbarwohnung zog. Aus einer einfachen Begegnung entwickelte sich eine tiefgehende Freundschaft. „Ich habe meinen neuen Nachbarn einfach zugehört“, wie sie ihre Geschichte erzählten, sagt Knapp. Er ließ sich vom Schicksal der Christen im Nahen Osten „anstecken“ und reiste nicht nur in den Irak, sondern schrieb die Berichte dieser Menschen auf, um sie für die Geschichte „zu retten“. Auch sein Vortrag beim Rhein-Meeting war geprägt von leidenschaftlicher Anteilnahme am Schicksal der Verfolgten und der jahrtausendealten christlichen Kultur im Nahen Osten, die in unserer Zeit vor der völligen Auslöschung steht. Wir Christen in Europa nehmen, wie er beklagte, kaum Notiz von diesem Vorgang von weltgeschichtlicher Tragweite.
Susanna Tamaro berichtete mit geradezu schonungsloser Offenheit von ihren „Verletzungen“ in der Kindheit. Sie leidet am Asperger-Syndrom, einer Variante des Autismus und war ein hypersensibles Kind, das Stunden über ein herabgefallenes Vogelnest weinen konnte. Aber sie konnte ihre Gefühle nicht ausdrücken und fand in ihrer Umgebung wenig Verständnis. Oft fühlte sie sich, wie sie sagt, „gefangen in ihren Neuronen“ oder „wie in einem Taucheranzug“. Auch für Tamaro ist ein „denkendes Herz“ ein unschätzbares Geschenk. Es sei wie eine „Vase, deren geheimnisvoller Inhalt nicht von uns abhängt“. Gerade dieser Aspekt des Herzens sei es, der „die Postmoderne so irritiert“. „In der Tiefe unseres Herzens erklingt eine leise Stimme, die Stimme des Gewissens. Sie lässt uns zwischen Gutem und Bösem unterscheiden. Nicht wir entscheiden darüber!“ Vom Hören auf diese Stimme hängt nach Ansicht von Susanna Tamaro das Gelingen des Lebens ab. „Die erste Tugend auf dem Weg zur Heiligkeit ist deshalb das Zuhören“. Der Mensch sei mit einer „Antenne“ geboren, mit der er „die Botschaft des Universums“ empfangen könne. Er warte nur auf „eine Resonanz, eine Erfüllung“. Deshalb kann für Tamaro auch ein „Leben voller Schmerz ein Geschenk“ sein, weil es die Sinne schärft und uns zum Hören sensibilisiert. „Ich war häufig wütend auf Gott. Aber von der Auflehnung muss man zum Erkennen kommen.“ Dann könne „das Geschenk des Leidens“ schließlich „ganz besonders glänzen“. Dabei sei die Freundschaft, ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch ihr Werk zieht, lebenswichtig, die „Seelenverwandtschaft“, wie sie es auch definiert. Eine solche empfindet sie besonders mit Etty Hillesum. So verstehe sie ihr schriftstellerisches Werk auch ein bisschen als Erfüllung des Wunsches, der Etty durch ihren frühen gewaltsamen Tod verwehrt blieb: eine „große Schriftstellerin“ zu werden.
„Die Kunst der Begegnung erfordert eine große Demut“, meinte Tamaro zusammenfassend. Und dieser wesentliche Aspekt des „denkenden Herzens“ schien wie die Überleitung zum Thema des nächstjährigen Rhein-Meetings, das einem Text von Martin Buber entnommen ist: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“.